Foto: Erfurt Sitz der Ökumenischen Telefonseelsorge/Archiv ich liebe Erfurt

Am 4.11.1992 nahm die Ökumenische Telefonseelsorge Erfurt ihre Arbeit auf

 

Erfurt (BiP). Um 17.45 Uhr, eine Viertelstunde vor dem offiziellen Beginn, klingelte am 4. November 1992 zum allerersten Mal das Telefon im Büro der Ökumenischen Telefonseelsorge Erfurt. Christoph Kuchinke zeigte sich erleichtert und nahm den Hörer ab. Die Erleichterung galt nicht dem Umstand, dass jemand anrief, sondern dass jemand anrufen konnte. Das Telefon war erst am Nachmittag installiert worden, auf den letzten Drücker sozusagen. Dabei hatte man schon am Vormittag den offiziellen Start der Erfurter Telefonseelsorge mit einem kleinen Festakt gefeiert. Um 17.45 Uhr war Kuchinke noch damit beschäftigt, einige Kleinmöbel ins Telefonzimmer zu tragen. Es war ja noch etwas Zeit. Da kam bereits der erste Anruf.

Am anderen Ende der Leitung sprach eine Frau, deren Sorgen nicht bis 18 Uhr warten konnten. Für diesen Tag war es das erste und zugleich das letzte Gespräch. Durchschnittlich zwei Anrufe pro Tag sollte es in den folgenden Monaten geben, wobei sich die Erreichbarkeit der Telefonseelsorge zunächst auf fünf Abend- und Nachtstunden beschränkte. „Das Angebot musste erst noch bekannter werden“, sagt Christoph Kuchinke, der Mann der ersten Stunde. Dass es Bedarf gab, war für ihn keine Frage. Und er sollte Recht behalten.

Tausende Anrufer 30 Jahre später

 

30 Jahre später weist die Statistik für das Jahr 2021 8.627 Anrufe bei der Erfurter Telefonseelsorge aus, Tendenz steigend. Durchschnittlich klingelt das Telefon also fast jede Stunde einmal. Mittlerweile können die Menschen mit ihren Sorgen und Nöten an sieben Tagen der Woche und rund um die Uhr die kostenlosen Nummern der Telefonseelsorge wählen. Knapp eine halbe Stunde dauert im Durchschnitt jedes Gespräch.

Anrufen kann, wer will, niemand wird nach seinem Namen gefragt. „Das Angebot der Telefonseelsorge richtet sich an Menschen jeden Alters, jeden Geschlechts, jeder Farbe, jeder oder keiner Religion und jeder Nationalität“, heißt es im Jahresbericht 2021. Dort ist ebenfalls vermerkt, dass neben dem Telefon die Kontaktaufnahme zusätzlich per Chat oder Mail erfolgen kann, was besonders jüngere Leute gerne nutzen.

Von Chats und Mails konnte 1992 noch keine Rede sein. Christoph Kuchinke hatte schon genug damit zu tun, überhaupt einen Telefonanschluss zu bekommen. Der ehemalige katholische Priester war beruflich bei der evangelischen Stadtmission in Erfurt untergekommen und hatte dort nach einem Fernstudium der Sozialarbeit eine Stelle als „Stadtmissionar im fürsorgerischen Dienst“ inne. Als es 1991 um den Aufbau einer Telefonseelsorge in der Stadt ging, beauftragte ihn sein Chef damit: „Das wäre doch was für Sie.“

Stunde Null mit Unterstützung aus dem Westen

 

Kuchinke machte sich an die Arbeit. Von Anfang an setzte er sich für eine ökumenische Ausrichtung der Telefonseelsorge ein, und ein entsprechender Vertrag wurde mit der evangelischen und der katholischen Kirche geschlossen, wobei die Trägerschaft bei der Stadtmission lag. Heute ist die Ökumenische Telefonseelsorge ein eingetragener Verein, und noch immer übernehmen beide Kirchen den Löwenanteil der Kosten. Die restlichen 40 Prozent stammen aus Mitgliedsbeiträgen, Fördermitteln des Freistaates Thüringen, der Stadt Erfurt und des Landkreises Sömmerda sowie aus Spenden und Bußgeld-Erlösen.

Auch wenn es einst in der DDR und bis 1992 in Thüringen so etwas wie eine Telefonseelsorge nicht gegeben hatte, musste Kuchinke als erster Stellenleiter nicht völlig bei null anfangen. Er konnte auf die Hilfe und Unterstützung der Telefonseelsorge in der alten Bundesrepublik zählen. „Partner unserer Telefonseelsorge waren die Kolleginnen und Kollegen in Aachen“ erinnert sich Christoph Kuchinke. „Dort konnte ich nicht nur mich selbst weiterbilden und hospitieren, die Aachener halfen mir auch, Mitarbeiter zu gewinnen, Ausbildungen durchzuführen und für die Telefonseelsorge zu werben.“ Anfangs reisten der Aachener Stellenleiter und sein Stellvertreter jedes Jahr für vierzehn Tage nach Erfurt und leisteten Starthilfe vor Ort, die für die Thüringer kostenfrei blieb.

Was vielleicht die Wenigsten ahnen, die bei der Telefonseelsorge anrufen: Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, mit denen sie sprechen, sind zwar für ihre Tätigkeit ausgebildet, sie arbeiten aber alle ehrenamtlich. Es gibt also keinen Stellenmarkt für Telefonseelsorger. Christoph Kuchinke musste daher seine Leute auf andere Weise gewinnen. Er informierte und startete Aufrufe in den lokalen Kirchenblättern, in Tages- und Kirchenzeitungen und bereitete mit den Aachenern einen ersten Informationsabend vor. „Nach der Friedlichen Revolution 1989 und im ersten Jahr der Deutschen Einheit hatten Ostdeutsche genug eigene Sorgen, nicht wenige sogar Existenzängste. Und jetzt galt es Menschen zu finden, die auch für die Sorgen anderer da sein wollten“, sagt er rückblickend.

Start mit 28 Ehrenamtlichen, darunter Nichtchristen

 

Nicht weniger als 78 Männer und Frauen folgten seiner Einladung und ließen sich im September 1991 im Johannes-Lang-Haus über die Telefonseelsorge informieren. Gut ein Jahr später erhielten 28 Frauen und Männer im Alter von 25 bis 65 Jahren die offizielle Beauftragung für den Dienst in der Ökumenischen Telefonseelsorge Erfurt. In einem Zeitungsartikel aus der Zeit schrieb Christoph Kuchinke, was diese Ehrenamtlichen zuvor gelernt hatten:

„Sie lernten, wie Gespräche geführt werden, wie sie geduldig zuhören und auf persönliche Probleme und Schilderungen eingehen können. Wichtig ist auch: Die Anrufer werden keine fertigen Lösungen erhalten; schnelle Ratschläge helfen nicht weiter. Im Kontakt mit der Telefonseelsorge soll das Hilfsangebot auch so aussehen, daß Menschen in Not vor allem auch dazu gebracht werden, selbst Lösungen für ihre Probleme zu finden und den Mut, die Probleme aus eigener Kraft anzugehen.“

Dazu kann es im Einzelfall auch gehören, auf weiterführende Hilfsangebote aufmerksam zu machen.

Unter den Ehrenamtlichen waren von Anfang an Nichtchristen. „Die Telefonseelsorge will ja nicht missionieren“, sagt Kuchinke., der die Eignung für dieses Engagement nicht vom Taufschein abhängig macht. So ist es auch heute noch. Wer mitmachen möchte, gehört entweder einer Kirche an oder steht dem christlichen Glauben positiv gegenüber. Telefonseelsorger müssen kommunikationsfähig, weltoffen und psychisch belastbar sein angesichts der Probleme, die die Anrufer ansprechen. „Da geht es um Partnerschaften, Arbeitslosigkeit, Trauer, Tod und Sterben, Lebensverdruss, Sexualität und immer wieder um Einsamkeit“, zählt Kuchinke auf.

Die ersten Telefonseelsorger, in großer Mehrheit Frauen, saßen in einem winzigen Büro an der Ecke Michaelisstraße und Pergamentergasse. Christoph Kuchinke – froh, einen Standort gefunden zu haben – ahnte jedoch nicht, dass das im Aufbau befindliche Telefonnetz just diesen Ort noch nicht erfasst hatte. Der umtriebige Stellenleiter hielt sich gar nicht erst damit auf, bei der Telekom lange herumzufragen, sondern organisierte gleich einen Termin beim Telekom-Chef für Thüringen. Der konnte zwar auch nicht das Telefonnetz von jetzt auf gleich erweitern. Aber ein herbeigerufener Ingenieur hatte die Lösung des Problems: Die Telefonseelsorge erhielt ein Telefon mit Antennenanschluss. Unter der Nummer 0361-6433330 landeten alle Anrufe bei einem Empfänger auf dem Buchenberg und wurden von dort per Funk zur Telefonseelsorge weitergeleitet.

Corona-Pandemie lässt Zahl der Anrufer nach oben schnellen

 

Kuchinke hatte wieder ein Problem gelöst. Fünf Jahre sollte es noch dauern, bis die Ökumenische Telefonseelsorge Erfurt unter den bundesweiten Nummern 0800-111 0 111 und -111 0 222 kostenlos erreicht werden konnte. Bis dahin musste jeder Anrufer für seinen Anruf selbst zahlen. Ab 1997 übernahm die Telekom diese Kosten wie auch im übrigen Bundesgebiet.

Zehn Jahre blieb Kuchinke als Stellenleiter bei der Ökumenischen Telefonseelsorge. Dann orientierte er sich beruflich neu. Seine jetzige Nachfolgerin ist Uta Milosevic, eine Psychologin mit Zusatzausbildungen in systemischer Beratung und personenzentrierter Gesprächsführung. Mit einer Sekretärin an ihrer Seite, beide in Teilzeit angestellt, kümmert sie sich um die Finanzierung der Telefonseelsorge Erfurt, wirbt um neue Ehrenamtliche, bildet sie aus, betreut sie und verfolgt genau, welche Entwicklungen sich in ihrem Arbeitsfeld ergeben.

„Die Corona-Pandemie hat die Zahl der Anrufer nach oben schnellen lassen“, sagt Milosevic. Sie ist froh, dass die Ökumenische Telefonseelsorge Erfurt in einem Regional-Verbund mit vier anderen Standorten in Thüringen und Sachsen-Anhalt zusammenarbeitet. „Ist an einer Stelle die Leitung besetzt, werden die Anrufer aus Thüringen und Sachsen-Anhalt automatisch zu einem anderen Standort weitergeleitet“, erläutert Milosevic. Seit Corona könne es aber vorkommen, dass Anrufer mehrfach die Nummer der Telefonseelsorge wählen müssen, um durchzukommen. Dieses Problem dürfte eher noch größer werden, meint Uta Milosevic. „Der Krieg in der Ukraine, die Inflation und die Energie- und Klimakrise lösen bei den Menschen große Ängste um die eigene Existenz aus.“ Das sei in vielen Telefonaten zu spüren, sagt die Stellenleiterin.

Wie Christoph Kuchinke zu Beginn der Telefonseelsorge in Erfurt muss auch Uta Milosevic ständig um Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werben. Im Moment sind es 64 Männer und Frauen, darunter drei, die von Anfang an, also seit 30 Jahren dabei sind. „Wir haben aber ständig Bedarf an ‚Ohren mit Herz‘“, sagt Milosevic.

Der nächste Informationsabend der Ökumenischen Telefonseelsorge zur ehrenamtlichen Mitarbeit findet am Mittwoch, 16. November, um 18 Uhr im Gemeindesaal der Katholischen Kirchengemeinde St. Wigbert (Zugang über Barfüßerstraße) in Erfurt statt. Es wird um Anmeldung unter Tel. 0361-5621620 gebeten. Weitere Informationen finden sich auf www.telefonseelsorge-erfurt.de.

Quelle: Bistum Erfurt, Peter Weidemann